Dienstag, 24. April 2012

Unitagebücher: Monday - One Day

Nun ist der Semesteranfang schon wieder ins Land gezogen, die Unitagebücher sind wieder dran, und ich schulde ein paar Erzählungen. Fühlt euch frei analog dazu nochmal den Morgen von Christoph dem Jüngeren zum Vergleich heran zu ziehen. Ich bitte vor allem auf die Uhrzeiten zu achten.
Es ist halb zehn, wenn der Taugenichs am Morgen seine Äuglein aufschlägt. Das Wochenende war er wieder relativ viel unterwegs. Weil April ist hatte wieder irgendjemand Geburtstag gefeiert, und den letzten Abend verbrachte er bei der Taugenichtsin, die eine Rolle irgendwo zwischen uralter Freundin, Ehefrau und Tochter einnimmt. Stöhnend rechnet er sich aus welcher Tag heute ist. Nachdem er seit vier Tagen nicht mehr in der Uni war, muss es sich schon wieder um Montag handeln. Sein Kopf formuliert ein paar Sätze, die den Montag schön reden sollen, aber aus seinem Mund kommt nur das Geräusch eines recht feuchten und unnatürlichen langen Furzes.1 Die nächste unglaublich anstrengende Rechnung gilt der Uhrzeit. Wenn es jetzt 9:27 Uhr ist, wann muss er dann los? Er beschließt sich noch eine halbe Stunde darüber zu meditieren, sich in seinem herrlichen dunklem Zimmer um zu sehen und die verschlafene, kratzige Stimme etwas zu strapazieren. Sehr zum Leidwesen der Mitbewohnerin, die schon seit einiger Zeit in der Küche hantiert. Um zehn Uhr wirft er sich in seinen Bademantel und versucht das dunkle Zimmer zu verlassen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, denn der Hunger treibt ihn an. Eine bereits frische Mitbewohnerin sitzt im gleißenden Licht der Sonne. Uuääähh, entfährt dem Taugenichts, als er seine Hand schützend vors Fenster hält. Nachdem er sich gesammelt hat, und den leicht spöttischen Blick der Mitbewohnerin wahrnehmen, sowie die Tatsache, dass sie vollkommen angezogen und fast geh bereit ist, bemerkt er, wie froh er sei, dass er erst in vier Stunden zur Uni muss. Etwas verzieht sich in ihrem Blick, sie lächelt weiter, doch die leise innere Träne, die sie vergießt entgeht dem Taugenichts nicht. Er holt sich seine Juppieschüssel und braut sein Frühstück – Haferflocken mit Kakao, wie er es seit Jahren nicht anders macht – zusammen. Zu aller erst checkt er seine Nachrichten, wundert sich, wie ihm das gestern noch entgehen konnte und wechselt dann kurz darauf in die Welt der Medien. Nach etwas zwanzig Minuten ist auch schon wieder alles was neu ist alt und er überlegt sich wie er die verbliebene Zeit nutzt. Er entscheidet sich für eine Lektüre und zieht Hartmann von Aue aus dem Regal. Er liest die Geschichte, wie Erec ruhmreich mit der schönsten aller Frauen an den Hof des König Artus zurückkehrt, und sich dann im Turnier schlägt. Nach gefühlten fünfhundert Versen an: Und jetzt erzähle ich euch, wer alles an dem Tisch da saß. Da waren die alten Könige, und der jüngste von ihnen war tatsächlich hundertundviertig Jahre alt, der älteste aber hatte einen Bart, der bis zum Gürtel reichte. Dann waren da noch die beiden Zwergenkönige Oin und Gloin, die garantiert nicht von gewissen angelsächsischen Linguisten für ein Fantasywerk, dass alles bekannte seiner Zeit überschatten soll, geklaut wird. Nie waren sich zwei Brüder unähnlicher. Der Taugenichts schlägt das Buch zu „Laaaaaangweilig! Schätzing wäre bei den dreiseitigen Listen der Anwesenden eingeschlafen!“. Ohne sich zu wundern, wieso er seine Gedanken schon wieder laut aussprach, drehte er sich kurzerhand um, und schlief nochmal ein paar Minuten. „Keine Zwei Stunden mehr, bis ich meine Sachen packen muss. Wie nutzt ein sterbender Mann diese Zeit?“2 Zurück an seinem Rechner schmeißt er erst mal die pausierte Musik wieder an, und muss laut lachen und mit einem Auge weinen, als die Killers mit dem Satz Will I live to have some children? weiter singen. Was steht denn heute auf dem Plan, wundert er sich. Bei den wenigen Kursen die sein Studiengang, der ihm mehr und mehr wie eine einzige blow-off class vorkommt, mit sich bringt, ist es keine schwere Sache, das alles noch von letzter Woche im Kopf zu haben. Absurd, grotesk und komisch. Theaterformen jenseits des „Regelhaften“. Natürlich. Dafür hatte er gestern ja noch diesen merkwürdigen Ionesco gelesen, in dem es nur darum ging, dass ein Typ in seien neue Wohnung einzieht und zwei Möbelpacker alles so voll stellen, bis das Haus, die Seine und der Rest von Paris voll gestellt ist. Aber zum Glück können sie ja das Dach aufrollen, und so im Dachboden auch noch was unterbringen. Ich liebe meinen Job. Der Taugenichts nickt zufrieden und schreibt irgendeinen Schund über seinen Tag soweit. Er hat sich gerade vorgenommen seinen Wochenalltag exemplarisch zu dokumentieren, merkt aber gerade jetzt (für euch: gerade dann) dass es gerade mal Montagmorgen ist, noch nichts passiert ist und die erste Seite schon wieder voll ist. Er entschließt sich den Rest des Montags später zu schreiben und sich als nächstes eine Hose an zu ziehen.
Der inzwischen fast angezogenen Taugenichts packt seinen Rucksack. Für das absurde Theaterseminar einen kleinen Ordner mit einem Blatt darin. Auf dem Blatt stehen die Namen Ionesco, Beckett, sowie die Jahreszahl 1950. Für den anschließenden Mittelhochdeutschen Sprach- und Kulturkurs packt er einen Ordner mit 33 Seiten Grammatikskript, 9 „Lernkarten“ und einem Protokoll, dazu noch zehntausend Verse Erec, eine kleine Übersetzung und natürlich ein Wörterbuch mit ein. Die Prioritäten für das Semester sind klar gegeben. Weil er ein Glückskind ist, tropft der letzten Regen gerade aus, als er sich auf sein Fahrrad schwingt und die zehn Minuten zur Uni fährt. Er hat jetzt übrigens seinen Bademantel gegen eine Jacke eingetauscht.

Absurdes Theater: Weil zweite Woche ist, sind jetzt nochmal alle Zimmer anders. Das absurde Theater, das für zwanzig Studenten Studierende geplant war, ist jetzt mit vierzig Teilnehmern in einen Vorlesungsaal umgezogen. Der Taugenichts schaut sich schnell eine wahllose Rothaarige heraus, die noch mit seiner Jahrmarktszeichnerei zu beeindrucken ist und verbringt zwei sehr gesellschaftliche Stunden mit Gesichtern und Perspektiven, und natürlich dem totalen Nikolaushaus3, das bis heute noch keiner geknackt hat, aber garantiert zu knacken ist. Der Dozent vorne hat auch ein bisschen was geredet, aber diese „Wir erzählen uns gegenseitig was wir uns beim lesen eines absurden Dramas gedacht haben“-Sitzungen sind nicht gerade anspruchsvoll. Also kann man sie getrost mit bonding talk4 verbringen. Das heißt wir haben ein bisschen Drama gelesen und reden jetzt über unsere Eindrücke. Ja, so funktioniert das wohl, aber was lerne ich daraus? Nur das es tatsächlich Frauen mit Pointen gibt.5 Und da kann der gute Professor gar nichts, sondern das ist ganz alleine der Verdient meiner Nachbarin gewesen. Nachdem die die Art des absurden Theater aber ohnehin alle Definitionen und Regelmäßigkeiten abstößt bin ich mir auch noch nicht sicher, was genau ich da sonst lernen soll. Das Mittagessen kam um 16 Uhr genau richtig, weil der Körper gut damit klar kommt auch gerne erst um 11 Uhr6 zu frühstücken, wenn er dafür länger schlafen darf.

Sprache und Kultur des deutschen Mittelalters: Hier wird tatsächlich was gelernt. Das andere Ende der Fahnenstange. Der Dozent ist ziemlich flott, tödlich arrogant und total cool. Aber nicht so tödlich arrogant und total cool, wie Prof. [tödlich arrogant und total cool] und das sei hier mal gesagt, kein Kurs der Welt, kann das gute alte NDL Einführungsseminar bei ihm ersetzen. Fast habe ich mir überlegt, ob ich nicht einfach wiederholen will...
Jedenfalls lernen ich hier den ganzen Mist, den Christoph der Jüngere vor langer Zeit gelernt hat7 und weil ich weiß, dass er das auch noch viel lieber macht als ich, und es weit besser kann, als es der Lehrstuhl an der Uni hier jemals beibringen könnte8 ist mein Herz nicht so ganz bei der Sache. Die Kapazität ist quasi schon gefüllt und wenn ich jemanden dafür brauche, ist er durch familiäre Verpflichtung dazu verpflichtet mir verpflichtet zu sein! Ha! Natürlich ist es ein faszinierendes Feld, und wenn ich die Zeit hätte richtig einzusteigen, würde ich das tun, aber die Zeit geht eben für die vielen anderen Interessen drauf. Und nachdem die ältere deutsche Literaturwissenschaft das Neuntel meines Studiums ist, das am wenigsten mit dem Rest korrespondiert, fällt die wohl unter den Tisch. Genauso wie die bildende Kunst schon geaxt wurde.
Das hat ein Loch in meinem Herzen hinterlassen.

Durch den Regen zurück zum ESZW, wo mich süßes Nichtstun erwartet hat. Zumindest bis die Taugenichtsin rief, sich erst eine halbe Stunde über dies und das aufregte, und dann ihre zahlreichen Filmbildungslücken schließen wollte. Also radelte ich noch einmal los und wir sahen uns Lola rennt mit ihrer Mitbewohnerin an. Nachdem das ein Trio ist, was wohl gekommen ist um zu bleiben, will ich die Rollenverteilung klären. Als einziger Mann bin ich die Versorgung. Ich bringe die DVDs und bin der, der fahren muss. Wenn es den Anlass gibt, dann bringe natürlich Cidre, Wein und ähnliches. Das Weibsvolk ist für Gastgeberei zuständig. Die Taugenichtsin ist die Technik und ihre grünhaarige Mitbewohnerin stellt den Komfort.
Gesellschaftlich ist die Taugenichtsin dafür zuständig, dass wir uns unterhalten, und augenrollende Blicke zuwerfen können. Tatsächlich ist das Beisein der Grünhaarigen hierfür von großem Nutzen. Als ich alleine mit der Taugenichtsin klar kommen musste, war es nicht immer leicht ohne Leidensgenossen.

Daheim angekommen rennt der Taugenichts9 in den Freund der Mitbewohnerin. „Du bist nackt“, bemerkt er scharf. Der Nudist in seiner Küche versucht nicht sich zu verteidigen, oder zu rechtfertigen. „Na wenn du so spät kommst!?“ Es war einfach eine Tatsache. Kurz darauf wuselt Mitbewohnerin durch uns hindurch und unterbricht das aufkommende Gespräch über Körperbehaarung, Schweiß und die anderen wenigen Themen, die man(n) mit nackten Männern besprechen kann. Es entbrennt sehr schnell die Diskussion was eigentlich der Unterschied zwischen Geschirrspülmittel und herkömmlicher Seife ist. Daraufhin hielt ich den chemisch völlig unbegabten Biologieingenieuren(!) ein kleines Referat darüber was amphotere Tenside sind (Weil der alte Junge eben doch ein bisschen aus seinem zehnjährigem Aufenthalt in diesem komischen Gebäude mitgenommen hat.) und geht mit der Befriedigung ins Bett zwei Naturwissenschaftler auf ihrem eigenem Gebiet belehrt zu haben. Natürlich geht er nicht sofort ins Bett, sondern muss erst noch seinen heutigen Blogeintrag für diesen Montag schreiben und erzählen, wie er da schreibt, was er hier schreibt.10


1Das ist tatsächlich eine Referenz auf einen vor langer Zeit gemachten Eintrag, der eine Referenz auf ein Garfieldcomic war.

2Irgendwann wird es umkippen. Dann ist es tatsächlich witzig und nicht mehr so bitter. Dann wird es wieder bitter werden. Und dann bin ich tot.

3Vgl. Taugenichts, Der [e.a.]: Abitur 2011 – G9. und es kommt doch auf die Länge an!, Kulmbach, 2011, S. 32.

4Immer noch keine gute Übersetzung dafür gefunden.

5Ich weiß nicht, ob ich diese Theorie hier schon einmal erwähnt habe? Dass „lustige“ Frauen meistens unfreiwillig komisch sind oder einen humoresken Charme haben, während Pointen eher Männersache ist? Als mir das mal auffiel, hatte ich mir geschworen eine Frau zu finden, die echte Pointen hat! Voilà. Wo sonst?

6Nachdem die akademische Uhrzeit ja fast nur runde Stunden mit gerader Zahl kennt, fiel es mir schwer 11 Uhr zu sagen, und mich nicht auf 10 oder 12 Uhr zu einige. Der Gedanke, dass ein Tag nicht im zwei Stundenrhythmus funktioniert scheint sehr schnell absurd.

7Das soll heißen, dass du alt bist, Christoph.

8Jaa, unsere Germanistik hier ist nicht die flotteste...

9Merkt ihr, wie ungeschickt ich zwischen erster und dritter Person wechsle? Daran ist nur der Taugenichts Schuld.

10„And don't tell me not to reference my songs within my songs!“

4 Kommentare:

  1. Heh, ich sehe du hast Erec erfasst und Hartmann verstanden. Ist auch sein langweiligerer Text. Lies mal "Iwein" oder noch besser "Herzog Ernst" (nicht von Hartmann), die sind etwas rezeptionsfreundlicher ;)

    PS: Wieso hab ich plötzlich das Bedürfnis mal wieder Dresden Dolls zu hören?

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    1. Wieso lässt er uns das dann in beiden Kursen machen? Wieso nichts spannenderes? Naja, vielleicht wirds ja noch. Ich hab noch was von jede Menge abgeschlagenen Köpfen und Jungfrauen am Ende gehört.

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    2. Ohja... das grosse Finale im Joie de la Court ist wirklich toll... und während der Rest des Erec recht angenehm zu übersetzen ist, ist Erecs finale Konfrontation und der Abschluss seines 2. Kursus auch zieeeemlich bitchy zu übersetzen.

      Die beste Stelle hast du aber wohl schon passiert, wenn das oben auf die notorische Ritterliste aus dem Erec anspielen soll. Sowas schönes aber auch:

      1676 Galopamur, daz ist wâr,
      1677 fil Îsabon und Schonebâr,
      1678 Lanfal und Brantrivier,
      1679 Malivliôt von Katelange und Barcinier,
      1680 der getriuwe Gothardelen,
      1681 Gangier von Neranden
      1682 unde Scos der bruoder sîn,
      1683 der küene Lespîn
      1684 und Machmerit Parcefâl von Glois
      1685 und Seckmur von rois,
      1686 Inpripalenôt und Estravagaot,
      1687 Pehpimerôt und Lamendragot,
      1688 Oruogodelet
      1689 und Affibla delet,
      1690 Arderoch Amander
      1691 und Ganatulander,
      1692 Lermebion von Jarbes,
      1693 fil Mur defemius a quater bardes.

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    3. PS: womit auch deine Frage beantwortet wäre. Von einigen Episoden abgesehen gilt der "Erec" als recht einfach und angenehm zu übersetzen, von daher ideal für den Einstieg. Das ist der "Herzog Ernst" allerdings auch, aber der ist den meisten wohl inhaltlich zu merkwürdig und sprachlich zu gewöhnlich. Deswegen schafft er es so selten in ein Einführungsseminar. Iwein ist sprachlich dagegen schon anspruchsvoller und deutlich durchstilisierter und artifizieller als Erec...

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