Donnerstag, 8. September 2011

Gefasel: Katharsis


Was soll man denn mit so einem Leben auch anfangen? In seinem Alter gibt es nicht mehr viel zu tun und all die Jahre, die man hinter sich gelassen hat, scheinen bedeutungslos und verschwendet. Andere haben jetzt schon mehrere Millionen auf dem Konto und eine glückliche Ehe. Beides war bei ihm fern von allem was wahr ist. Er konnte ja nicht mal so genau sagen wer er war. Nichts um ihn herum definierte ihn. Nichts war herausragend an ihm. Er war nicht sehr gutaussehend, war nicht übermäßig klug, war auch nicht besonders ausgestattet. Sportler gibt es zu viele, als dass irgendeiner davon etwas bedeuten könnte und kreativ waren immer nur die anderen. Er war nur ein weiterer Versager in einer Welt in der nur der erste Platz etwas wert war. Jeder um ihn herum hatte etwas, das ihn besonders machte, jeder von ihnen war auf seine Weise einzigartig. Würde er verschwinden, seine Freunde könnten ihn leicht ersetzen. Was macht ihn unentbehrlich? Gar nichts. In manchen Augenblicken fragte er sich, ob sein Leben eigentlich lebenswert war.
Es donnerte draußen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann wurde das Donnern zu einem unaufhörlichen Grollen und der Wind fing mit einem mal an zu pfeifen. Am Fenster sah er, dass der Regen horizontal gegen die Scheibe prasselte. Für einen kurzen Moment verharrte er. Von einer Sekunde auf die Nächste war er auf dem Weg ins Freie. In die Freiheit. Als er auf der Wiese angekommen war, hatte er bereits alle Kleider auf seinem Weg verteilt. Es drehte ihn vor seinem eigenen Glück. Regentropfen stürmten von allen Seiten gleichzeitig auf ihn ein. Der Wind hätte ihn umgerissen, hätte er nicht so schnell die Richtung gewechselt. Das Dröhnen der Blitze, die überall um ihn herum einschlugen, übertönte kaum sein Lachen. Das Lachen aus den tiefsten Ecken seine Lunge hinaus bis in die weite Welt vom Wind weiter getragen an Orte, die kein Mensch zweimal sieht. In seinem taumelnden Tanz spürte er gar nicht die Kälte, die über seinen ganzen Körper kroch und seine Haut aushärten lies. Das Regenbad wusch den Dreck der letzten Tag von seiner Haut, während der Schlamm unter seinen baren Füßen im wilden Tanz bis zu den Knien spritzte. Oh, wie er vor Verzückung schrie, in diesem Jahrhundertgewitter, dass nur die Geburt einer neuen Welt ankündigen konnte. Dieser Morgengrauen einer neuen Götterdomäne war so viel mehr, als sein kleines Leben, so viel mehr als alles was er jemals sehen durfte. Mit welcher Anmaßung konnte er seiner Existenz eine besondere Stellung im Gefüge der Universen zuschreiben? In dieser Stille des Sturms verlor er die Bedeutung von Wahrheit und Lüge, von dem was er sich einredete und allen Wertvorstellung. Nichts konnte diese Morgendämmerung gerecht werde. Nichts was er kannte wurde dem gerecht, was er jetzt empfand, als der Himmel sich für die himmlischen Heerscharen auftat und rigorose Engel ihr Gericht hielten. Ein Gericht, dessen Ausmaß sein Verstand nicht hoffen könnte zu erfassen. Er fühlte sich das erste mal in seinem Dasein als Nichts bestätigt und mit dem Verlust der Bedeutung für die Bedeutung selbst verlor er alles. Die Natur hatte ihn in seiner Gewalt und wer war er sich dagegen zu wehren?
Als er endlich stolperte hörte er nicht auf sich zu bewegen. In alle Richtungen schmiss er seine Glieder in der aufgeweichten Wiese. Er legte den Dreck als neue Kleidung an. Keuchend verlor er schließlich die letzte Kraft. Japsend lag er auf dem Rücken, als der Regen schwächer wurde und das Gewitter weiter zog.
In seinem Bad angekommen warf er die Kleider in die Waschmaschine. Dann entschied er sich um und verschürte die Kleidung. In der heißesten Dusche seines Lebens wusch er den Dreck des Gewitters von sich ab. Die nächsten Tage hatte er eine fürchterliche Erkältung, gefolgt von einer Magen-Darm-Grippe. Nach nicht einmal einer Woche erholte er sich wieder. Er kam stärker und gesünder aus der Krankheit zurück als er es in seinen besten Jahren war. Er wusch die durchgeschwitzten Bettlaken mit dem Wissen, dass das gar nicht seine besten Jahre waren, sondern dass sie erst noch vor ihm lagen.

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